Seminar "Freuds Religions- und Kulturkritik"
bei Prof. Dr. Klaus Christian Köhnke
Protokoll
Sigmund Freud: "Das Unbehagen in der Kultur." (1930), Teil I
Ein Referat von Markus Hofmüller und Tobias Elze, gehalten am 5. November 1998
"Die letzten Schriften Freuds sind auch für viele, die sich seine Anhänger nennen, eine Quelle ernster, manchmal peinlicher Verlegenheit geworden", so konstatiert Theodor Reik "Zu Freuds Kulturbetrachtung" 1930, einer der ersten Reaktionen auf die Schrift "Das Unbehagen in der Kultur".
Viele Leser scheinen Befremden darüber geäußert zu haben, daß Freud Ideen, die sich für die Behandlung von Neurosen als nützlich erwiesen hatten, nun auf sozialwissenschaftliche Fragestellungen anzuwenden scheint.
Allerdings hat Freud, und dafür stehen Schriften Zeugnis wie die bereits 1908 verfaßte "Die ‚kulturelle‘ Sexualmoral und die moderne Nervosität", schon von allem Anfang seines Schaffens an kulturelle und soziale Aspekte in seine Theorien einbezogen, ja ist die ganze Psychoanalyse, die seelischen Leidensdruck bekanntlich als Resultat des gesellschaftlichen Umfelds begreift, ohne eine solche Betrachtungsweise gar nicht denkbar.
Freud war sich allerdings der Schwierigkeiten des Unterfangens, die Kultur explizit zum Gegenstand seiner Theorien zu machen, durchaus bewußt, und so versucht er bereits unmittelbar nach Vollendung seiner Schrift, deren Bedeutungsgehalt herunterzuspielen: "... Ich schrieb, und die Zeit verging mir dabei ganz angenehm. Ich habe die banalsten Wahrheiten während dieser Arbeit neu entdeckt," schrieb er am 28. Juli 1929 an Lou Andreas-Salomé.
Und noch ein Zitat soll dem Beginn unserer Analyse des Textes vorangestellt werden, von Arnold Zweig, der am 27. Februar 1939, bezugnehmend auf den europäischen Faschismus, an Freud die folgenden Zeilen sandte: "Von allem, allem abgesehen bin ich in dieser Zeit so tief und beglückt in Ihrer Atmosphäre! Ich habe nämlich entdeckt, und eine gewisse Beruhigung geschöpft aus dieser Entdeckung, daß die Erklärung für den Trümmerhaufen, als dessen Ratten die Diktatoren und wir leben, bei Ihnen steht. Im Unbehagen. Nur Ihre Gedanken erklären den Haß, die Gleichgültigkeit gegen alles, was seit Mosis Kultur geschaffen und bedeutet hat."
Die Antwort des Adressaten allerdings mag den Romancier verblüfft haben: "Was Sie für ‚trostreiche Aufklärungen‘ in meinem Unbehagen entdeckt haben wollen, kann ich nicht leicht erraten. Dieses Buch ist mir heute sehr fremd geworden," so Freud am 5. März.
"Das Unbehagen in der Kultur" findet seine Einleitung in der Bezugnahme auf einen Brief von Romain Rolland, dem Freud seine Schrift "Die Zukunft einer Illusion" zugeschickt hatte, und der in seiner Replik bedauert, Freud habe die eigentliche Quelle der von ihm als Illusion bezeichneten Religion unerwähnt gelassen: das "ozeanische" Gefühl, welches Freud aus dem Brief heraus charakterisiert als "ein Gefühl der unauflösbaren Verbundenheit, der Zusammenhänge mit dem Ganzen der Außenwelt" (S. 32).
Freud selbst kann dieses Gefühl an sich nicht feststellen und wirft die Frage auf, ob es tatsächlich Ursprung aller religiösen Bedürfnisse sei.
Und so startet er den Versuch einer "psychoanalytische[n], d. i. genetische[n] Ableitung eines solchen Gefühls" (S. 32 f.).
In der menschlichen Erfahrungswelt scheint es ein einheitliches, gegen alles andere gut abgegrenztes "Gefühl unseres Selbst, unseres eigenen Ichs." zu geben (S. 33), welches zwar nach innen ohne scharfe Grenze zum Es ist, "dem es gleichsam als Fassade dient", aber eine relativ stabile Außengrenze zu haben scheint, die nur in pathologischen Fällen oder "auf der Höhe der Verliebtheit" verschwimmen kann.
Doch "Eine weitere Überlegung sagt: Dies Ichgefühl des Erwachsenen kann nicht von Anfang an so gewesen sein." (ibd.)
Säuglinge beispielsweise haben diese feste Außengrenze noch nicht. Sie müssen erst erfahren, daß Innen und Außen keine Einheit bilden, zum Beispiel wenn "manche Erregungsquellen", wie die Mutterbrust, sich ihm zeitweise entziehen.
Säuglinge haben die Tendenz, Schmerz- und Unlustempfindungen einer "Außenwelt" zuzuschreiben, analog die Lustempfindungen der Innenwelt ("reines Lust-Ich") (S. 34).
Entscheidend dabei ist: - "Ursprünglich enthält das Ich alles, später scheidet es eine Außenwelt von sich ab." (ibd.)
Freud fährt fort mit der Diskussion der Annahme, "daß dieses primäre Ichgefühl sich im Seelenleben vieler Menschen – in größerem oder geringerem Ausmaße – erhalten hat" (S. 35), so daß es das "Ozeanische Gefühl" auslösen könnte.
Damit stellt sich die grundsätzlichere Frage nach der Berechtigung der "Annahme des Überlebens des Ursprünglichen neben dem Späteren, das aus ihm geworden ist" (S. 35) – einem psychischen Phänomen, das Freud im folgenden mit Hilfe verschiedener Analogien zu veranschaulichen versucht: Zunächst versucht er, das Überleben ursprünglicher, primitiverer Arten im Verlauf der Evolution neben den aus ihnen hervorgegangenen als Metapher für vergleichbares Nebeneinander von Ursprünglichem und Weiterentwickeltem auf seelischem Gebiet (,das er als Folge von Entwicklungsspaltung betrachtet,) darzustellen. Ferner bedient sich Freud in Anlehnung an (bzw. in Abgrenzung von) G.Simmels "Rom" einer Darstellung der Entwicklung der Stadt Rom als räumlicher Metapher für das Phänomen der Erhaltung im Psychischen, um schließlich zum dritten eine Analogie zum menschlichen Körper herzustellen, dessen Grundstrukturen im Verlauf der Ontogenese zwar immer erhalten bleiben, der jedoch sowohl erscheinungsmäßig als auch materiell im Lauf der Entwicklung ein völlig anderer wird. – Alle drei Analogieversuche werden letztlich von Freud verworfen, der feststellt, "daß eine solche Erhaltung aller Vorstufen neben der Endgestaltung nur im Seelischen möglich ist und daß wir nicht in der Lage sind, uns dies vollkommen anschaulich zu machen." (S. 38)
Bezüglich der letzten beiden Analogien ist festzuhalten, daß es zwar recht gebräuchlich, jedoch gleichzeitig auch sehr fragwürdig ist, räumliche Metaphern zur Veranschaulichung des Psychischen zu verwenden.
Zum "Ozeanischen Gefühl" zurückkehrend, dessen Existenz Freud "durchaus bereit [ist] anzuerkennen", wirft Freud schließlich die Frage auf, ob dieses nun "als die Quelle der religiösen Bedürfnisse angesehen" werden dürfe. (S. 39)
Dies wird von ihm verneint, für die religiösen Bedürfnisse scheint ihm "die Ableitung von der infantilen Hilflosigkeit und der durch sie geweckten Vatersehnsucht unabweisbar", denn "Ein Gefühl kann doch nur dann eine Energiequelle sein, wenn es selbst der Ausdruck eines starken Bedürfnisses ist." (ibd.)
Hierbei ist darauf hinzuweisen, daß Freud Religion offensichtlich als allein im Verlauf der Ontogenese generiertes Phänomen betrachtet, die Phylogenese dabei also keine Rolle spielt.
Abschließend mutmaßt Freud, "daß das ozeanische Gefühl nachträglich in Beziehungen zur Religion geraten" sein könnte, um schließlich über Verwandtschaften zwischen "Ozeanischem Gefühl" und Yoga, Trance und Ekstase zu spekulieren.
Es bleibt festzustellen, daß eine gewisse Distanz oder sogar Hilflosigkeit des Autors gegenüber dem Terminus des "Ozeanischen Gefühls" unübersehbar ist, der ja einleitend auch bemerkte, daß er selbst das "Ozeanische Gefühl" nicht in sich zu entdecken vermag.